Steht das Urteil gegen den Co-Bürgermeister von Amed/Diyarbakir schon fest?

Medienmitteilung der BeobachterInnendelegation zur Prozesseröffnung gegen Fırat Anlı, CoBürgermeister von Amed/Diyarbakır und 51 Mitangeklagte vom 20. Februar 2017

Am späten Nachmittag vom Montag, 20. Februar spielten sich am Strafgericht von Amed/Diyarbakır (Südosttürkei) unglaubliche Szenen ab. Die Verteidiger des in Untersuchungshaft sitzenden CoBürgermeisters Fırat Anlı, plädierten für ihn und die sechs ebenfalls verhafteten Mitangeklagten auf sofortige Haftentlassung. Derweil plauderte und scherzte der beisitzende Richter mit dem Staatsanwalt, der sich erstaunlicherweise ebenfalls auf der Richterbank befand. Das Verhalten war der bildliche Schlusspunkt der Verhandlung, die während des ganzen Tages von Arroganz und Verachtung der klagenden und urteilenden Instanzen den Angeklagten gegenüber geprägt war: hier Richter und Staatsanwalt als Vertreter der Staatsmacht, ihnen gegenüber Angeklagte, denen Separatismus und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation vorgeworfen wird und denen hohe Gefängnisstrafen drohen.

Fırat Anlı hatte anfangs Oktober zusammen mit der Co-Bürgermeisterin Gültan Kışanak im Rahmen des Brückenschlags «Zürich <–> Amed/Diyarbakır» Zürich besucht. Bei dieser Gelegenheit führten sie unter anderem Gespräche mit Stadtpräsidentin Corine Mauch und verschiedenen Verwaltungsstellen zu praktischen Problemen einer Gemeindeverwaltung. Zehn Tage nach ihrer Rückkehr sind sie verhaftet und Diyarbakır unter Zwangsverwaltung gestellt worden. Seither tagt auch das Stadtparlament nicht mehr. In der ganzen Türkei herrscht noch immer Ausnahmezustand und in der Altstadt von Diyarbakır, Sur, eine Ausgangssperre – Sur wurde inzwischen sogar durch Mauern abgeriegelt.

Verteidigung und einheimische ProzessbeobachterInnen vermuten, dass es beim Prozess gegen Fırat Anlı – der Prozess gegen Gültan Kışanak steht noch aus – um die Amtsenthebung der gewählten Stadtregierung und die Installierung einer Zwangsverwaltung geht. Zu offensichtlich weisen Umstände ihrer Verhaftung und Anklagepunkte darauf hin. Fırat Anlı und Gültan Kışanak wurden am gleichen Tag zur exakt gleichen Zeit in verschiedenen Städten in Polizeigewahrsam genommen. Die Verteidiger gaben zu bedenken, dass diese koordinierte Verhaftung nahelegen würde, dass den beiden die gleichen Straftaten vorgeworfen würden, was nicht der Fall ist.

Fırat Anlı wirft der Staatsanwalt im Zusammenhang mit dem Bau einer Wasserversorgung für eine kleine Gemeinde im Verwaltungsbereich von Diyarbakır Separatismus und Unterstützung einer terroristischen Organisation (PKK Guerilla) vor. Weitere Teile der Anklagepunkte sind ein Friedhof, auf dem gefallene GuerillakämpferInnen bestattet wurden, ein Festzelt, das der Propaganda gedient haben soll, ein Generator, der elektrische Energie lieferte und eben das Wasser. Die Verteidigung spricht von einer kruden Vermischung verschiedener, zusammenhangsloser Elemente, die die Staatsanwaltschaft zu einer für die Angeklagten bedrohlichen Anklageschrift zusammengebaut hat. Diese Vorwürfe wurden schon vor eineinhalb Jahren konstruiert, Fırat Anlı jedoch erst im vergangenen Herbst als Hauptverantwortlicher in sie eingebaut. Er leugnet seine Verantwortung beim Bau der Wasserversorgung nicht; im Gegenteil, es sei seine Aufgabe gewesen, die Wasserversorgung für die Gemeinde, die seit Jahrzehnten auf einen Anschluss wartete, endlich zu realisieren. Ebenso wenig streitet er ab, öffentlich für Gemeindeautonomie und Föderalismus als wichtige demokratische Instrumente, wie sie auch die Schweiz kennt, für alle Gemeinden in der Türkei einzustehen. Daraus eine Anklage wegen Separatismus zu konstruieren, ist absurd.

Mit Bestürzung mussten wir von der Delegation aus der Schweiz zum Schluss des ersten Verhandlungstags das Verdikt des Gerichts zur Kenntnis nehmen: Bis auf eine Person wird die Untersuchungshaft für alle Angeklagten bestätigt und der Prozess erst Mitte Mai weitergeführt. Da die Untersuchung abgeschlossen ist, kommt dieses Urteil einer Vorverurteilung gleich und die Angeklagten werden ohne Urteil monatelang in Haft gehalten.

Umso eindrücklicher war für die Delegation die gefasste Haltung der Angeklagten und ihrer Familienangehörigen. Seit vielen Jahren sind sie sich als kurdische Bevölkerung solche, auch juristische, Machtdemonstrationen des türkischen Staats gewohnt und geben dennoch ihre Überzeugung und Hoffnung nicht auf. Neben der Prozessbeobachtung wollten wir als Delegation sie und die Angeklagten unserer Solidarität versichern.

Politische Prozesse gegen engagierte Menschen finden in der Türkei im Moment zuhauf statt. In diesem Kontext fordern wir Bundesrat, EDA und ParlamentarierInnen auf:

  • sich für die Freilassung von Fırat Anlı und seiner Mitangeklagten einzusetzen,

  • die Einhaltung von rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien in der Türkei einzufordern,

  • offizielle BeobachterInnen an die politischen Prozesse zu entsenden,

  • den Verlauf und die Abstimmung über das Verfassungsreferendum am 12. April zu beobachten

  • keine Rückschaffungen in die Türkei vorzunehmen

für politisch Verfolgte grosszügige Aufenthaltsregelungen in der Schweiz zu erlassen.

Delegation des Brückenschlags «Zürich <-> Amed/Diyarbakır»